Ich bin auf einen blinden Fleck gestoßen.
Ist sicher nicht mein einziger, aber den einen, den hab ich erwischt.
Und zum ersten Mal war mir so richtig klar, warum uns das Leben manchesmal an die absoluten Grenzen unserer Belastbarkeit/Geduld/Hilfsbereitschaft etc.pp. bringt: Dort, jenseits der Demarkationslinie unseres wohlkonzertierten Bewußtseins, gleichsam im wilden Wilden Westen unseres Selbst, liegen sie, die Untiefen, die (zumindest dem Ego) todbringenden Klippen. Da, im unkultivierten, "unethischen" - das heißt nicht moralisch gefilterten- Unterbewußten, da beißen wir plötzlich auf Granit.
Es ist als ob der innere Steuermann, erschöpft durch Krankheit, Überforderung oder einfach dem Leben an sich, das Ruder losgelassen hätte. Und plötzlich taumelt unser vermeintlich seefester Ozeanriese wie eine kleine Nußschale in den Wellen, hier- und dahin gezogen von den Strömungen, nicht mehr imstande, Widerstand zu leisten. Und schließlich werden wir hineingezogen in das gefährliche, unkontrollierbare Wasser beim Riff, mit seinen Untiefen und tückischen Klippen, die nur darauf warten, dass unser so fein gefügtes Selbstbild an ihnen zerschellt.
Das ist der Moment, wo wir beinhart und gnadenlos sind mit denen, die wir eigentlich lieben.
Unser sonst allgegenwärtiges Verständnis und Mitgefühl scheint an diesem Ort nicht zu existieren. Nichts Warmes, Liebevolles kann uns dorthin folgen, und nichts außer eisiger Kälte geht an diesem Ort von uns aus.
In meinem Meer aus Gefühl, Verständnis und Liebe baut sich ein Felsen aus Kälte auf, ist...innen Granit.
Aber worauf gründet dieser Fels? Warum kann er dort existieren?
Meist sind wir so entsetzt von diesen Bereichen unserer Seele, dass wir so schnell wir können Reißaus nehmen, uns wieder in die sicheren Gestaade unseres Bewußtseins begeben und die Begegnung mit unserer eigenen Hölle als schrecklichen Ausrutscher, der nie wieder vorkommen soll, deklarieren.
Aber wenn wir so müde, so bis in die Knochen erschöpft sind, dass wir einfach nicht mehr davonrennen können vor diesem Ort, dann bleiben wir manchesmal lange genug stehen und starren den Granitbrocken in unserer Seele an. Und plötzlich können wir ihn sehen, den Urgrund für den blinden, den toten Fleck in uns selbst.
Es ist Schmerz. Es ist immer Schmerz.
Und unser Auftrag, gegen den wir uns so gewehrt haben, zu dem man uns gleichsam zwingen musste, ist uns selbst da abzuholen. Das kleine Kind, der abgerackerte Mann, die nicht gewürdigte Mutter, die verspottete Freundin, der im Stich gelassene Kollege, der von der Welt vergessene alte Mensch in uns, egal welcher Teil auch immer, der nicht von uns gesehen werden wollte in seiner Verletztheit, steht da auf der Klippe im Eismeer und verströmt Kälte, während er selbst erfriert.
Hol ihn da raus.
Schau ihn einfach an, den Teil von Dir, der nicht in das Konzept - Dein Konzept! - vom netten, klugen, entspannten, selbstsicheren usw. Menschen gepasst hat, der Du sein möchtest. Schau ihn an, den Teil, den Du rausfilterst.
Du musst ihn nicht gut finden; Du musst ihn nicht mögen. Du musst nur anerkennen, dass er da ist. Und dass er leidet. Nicht mehr und nicht weniger.
Irgendwann später, wenn das alles geschafft ist, wirst Du ihn verstehen. Ihn gern haben. Ihn und alle die Wesen da draußen in der Welt, die so sind wie er.
Denn in diesem einen Moment löst sich der Schmerz auf und entzieht dem Felsen in Dir den Boden.
Und Dein Meer plätschert sanft an Deine neu eroberte Küste.